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Gelbe Ströme, Rote Städte und die Vielschichtigkeit des Blicks

by Dr.  Jurij Poelchau 3.4.2013                                                     

 

Wenn ich nach Munkebraten komme, so tauche ich tiefer in den Strom des Lebens. Hier leben viele Wesen zusammen: Bienen, Hühner, Obstbäume, Meisen, Raben, Klaere, Ola und Balto – ein Huskiemischling. Die Uferlinie schlängelt sich zwischen dem See und den geschwungenen Wiesen. Der graue Lärm der Städte ist weit weg.

Gehe ich vom roten Wohnhaus zur roten Scheune, komme ich in Klaeres Atelier. Hier strömen gelbe Ströme, träumen verwunschene Städte, eruptiert Farbe in Strukturen die über Strukturen liegen, schauen Krähen in die lila-blaue Ferne. Ein Mensch geht über einen granitenen Weg ins gelbe Nichts.

Immer wieder mäandert die Grenzlinie zwischen den Welten.

Aus dem Fenster des Ateliers schaue ich auf die tief stehende silberne Märzsonne die im lichtblauen Himmel stehend die Schneeflächen des Sees und der Wiesen zum Funkeln bringt. Zwischen ihnen die Grenzlinie des Ufers. Längs des Ufers koexistieren zwei Zustände, der See und das Land. Längs der Grenzlinien in Klaeres Bildern koxistieren verschiedene Seinszustände. So wie ein Strom aus pointillertem Gelb zwischen Strukturen aus Rot und Blaugrün. Taucht man in den Strom, löst man sich auf. Das Ich des Betrachters wird vom Strom mitgerissen, zerrinnt im Gelb. Man strömt mit seinem Nicht-Ich in eine der Buchten, überscheitet die Grenzlinie ohne es zu bemerken, findet sich im Rot und kondensiert wieder zu einem Ich, das erneut das Bild betrachten kann und sich im gelben Strom verlieren kann. Ich und Nicht-Ich, zwei Zustände meines tieferen Selbst, getrennt durch die Uferlinie des Stroms.  

Oder: Eine getupfte florale Struktur. Eine mäandernde Grenzlinie. Eine chinesische Stadt: orange und rot hineingekratzt in dunkelblau und braun. Eine mäandernde Grenzlinie. Wieder eine getupfte florale Struktur. Die Stadt hat eine besondere Qualität, die in unseren Städten nicht zu finden ist. In der Stadt herrscht Frieden. Sie ist wie eine Ansammlung von Klausen, in denen die Menschen ein meditatives Leben führen. Dort hinter diesem Fenster sitze ich bei Kerzenschein und schreibe über Meister Tschuang Tse, der einst selig vor Glück durch die Straßen der Stadt ging. Er taumelte ein wenig, und überschritt dabei die Grenzlinie – befand sich plötzlich mitten in einem Wald voller Blumen. Er legte sich unter einem besonnten Baum nieder und schlief ein. Er träumte er wäre ein Schmetterling der über dem Blütenmeer flatterte. War es nun Tschuang Tse der träumte er wäre ein Schmetterling oder war es der Schmetterling der träumte er wäre Tschuang Tse, der glückselig durch die Straßen der Stadt taumelte?[1] Das Wunder der Koexistenz kommt in dem Bild zutage. Verschiedene Welten, die wir in uns tragen und zwischen denen wir mit einem kleinen Taumeln über die Grenzlinie wechseln können. Der Blumenwald und die Stadt, der Schmetterling und der Mensch – zwei Träume, die in ihrem Ursprung eins sind.    

Eine weitere Stadt liegt rot-orange glühend auf einer Insel im tiefblauen Meer. Über ihr befindet sich ein riesiger Gletscher in der sich die Stadt im Eisblaugrau spiegelt. Der Gletscher könnte aber auch der Himmel sein in dem das himmlische Spiegelpendant zur der irdischen Stadt schwebt. In der Stadt leben die Menschen, in der Spiegelstadt leben die Spiegelmenschen. Vielleicht ist es auch die himmlische Stadt in der die Schutzengel der Menschen leben. Oder die himmlische Stadt ist die Stadt in der die Traum-Ichs der Menschen aus der rot-orangen Stadt leben. Die Menschen in der rot-orangen Stadt träumen das Leben in der Gletscherstadt und die Menschen in der Gletscherstadt träumen das Leben in der rot-orangen Stadt. Verschiedene Zustände der einen Wirklichkeit, nach der wir Zeit unseres Lebens suchen, die jedoch nicht in Raum und Zeit zu fassen ist.  

Traumwelten durch Grenzlinien voneinander getrennt. Man befindet sich träumend in der einen Welt, kommt ins Taumeln und befindet sich plötzlich in einer anderen. Man steht am Ufer einer belebten Landschaft und schaut sehnsuchtsvoll in das Blau-Lila-Türkis einer Welt, die ist, wie der späte Nachglanz der untergegangenen Sonne im Meer. In der Ferne weben die Göttinnen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Faden des Schicksals. Krähen stehen nonchalant an der Scheidelinie zwischen den Welten. Eine kleine Gestalt hat sich über das Ufer hinaus in diese Welt der Blauen Weite gewagt. Sie sieht mutig und etwas verloren aus. Kann sie jemals wieder zurückkehren, aus der großen Weite in die kleinteilige Vielfalt des Menschenlebens? Aus der unermesslichen Freiheit in das Verwobene, das vielschichtige Geflecht?

Eine gelbe Tiefe umgeben von städtischen und natürlichen Strukturen. Gepflasterte Flächen und ein Weg aus Granitplatten reichen in die gelbe Untiefe – loten sie ein Stück weit aus. Ein Mann geht über den Weg, der im gelben Nichts endet. Ein weiterer Schritt und er ist verschwunden, ist nie gewesen. Er ist kein distanzierter Betrachter, er ist mit Haut und Haaren dem gelben Nichts ausgeliefert. Wird er sich umdrehen und zurück ins Leben gehen, seine Identität wahren? Nein es ist deutlich zu sehen, er tut seinen letzten Schritt. Er löst sich auf in gelbem Licht – in einem unendlichen Raum, der von gelbem Licht erfüllt ist. Strahlend, gleichmäßig – ohne Quelle. Er wird gelbes Licht – unendlich ausgedehnt – überall  gleichmäßig strahlend. Licht, dass sich direkt aus dem Urgrund ergießt, der uns alle erschaffen hat.            

Zuerst war der Urgrund, dann war farbiges Licht, dann war da die Natur aus der der Mensch sich als das Wesen entwickelt hat, welches die Freiheit hat, gut oder böse zu sein. Klaeres Bilder beschreiben diese verschiedenen Seinszustände. Man sieht die Welt des Menschen. Man sieht die Welt der Natur. Man sieht das farbige Licht – Ahnt die unendlichen Räume aus farbigem Licht in die man sich verliert, in denen man seine endliche Identität aufgibt, um selber unendliches farbiges Licht zu werden. Dieses farbige Licht, welches unserer Existenz zugrunde liegt, finden wir im „realen Leben“ nicht. Es ist tief in uns verborgen. In einigen Bildern wird es möglich aus unserer jetzigen Befindlichkeit heraus eine Reise in diese Tiefe zu unternehmen und wieder zurückzukehren in die Vielfalt des irdischen Seins.

Mein Blick wandert über die farbigen Strukturen, über einen Tisch auf dem hundert Pinsel liegen, durch das Fenster und zur Silhouette des Waldes am gegenüberliegenden Ufer. Er endet im Himmel. Ich nehme, wenn auch vage, alle Zwischenstationen des Blicks wahr – ihre verschiedenen Strukturen und Qualitäten Diese Vielschichtigkeit des Blicks findet sich in den Bildern wieder. Ebenen hinter Ebenen, Farben über Farben, Strukturen über Strukturen, Farben und Strukturen über Schwarz-Weiß Collagen aus eigener Photografie, die durch die Art wie sie geschnitten und angeordnet sind, wieder Strukturen schaffen. Die Vielheit, das Neben-, das Unter- und Übereinander des Lebens zeigt sich – vom  großen Weiten bis ins kleine Filigrane. Ich kann mit meinem Blick in die Tiefe tauchen oder auf der Oberfläche bleiben. Ich kann mit meinem Blick längs einer Grenzlinie wandern, kann in einen der Zustände eintauchen oder alles gleichzeitig wahrnehmen. Die Bilder kommen der vielschichtigen Natur meines Blicks entgegen. Es sind jedoch nicht räumliche Ebenen, die übereinander gelegt werden, sondern Seinsebenen. Und so kann ich mich mit meinem Blick mühelos in verschiedene Ebenen des Seins hineintauchen. Manchmal überschreite ich dabei ohne es zu merken eine Grenzlinie und gelange, wenn ich es zulasse, in einen Raum reiner Farbe. Manchmal verweile ich in der Menschenwelt und finde neue und neue Details. Die Vielschichtigkeit der Welt, die ich durch die Vielschichtigkeit meines Blicks erschaffe, der in die Vielschichtigkeit des Bildes hinabtaucht, wird gegenwärtig. Der Blickwechsel den ich mit dem Bild führe wird zu einem Wechsel der Zustände. Meiner und der des Bildes. So kommt es zu einem Dialog.

Nun bin ich wieder in einem anderen Zustand geraten. Ich sitze an meinem Schreibtisch in Berlin und tippe meine handschriftlichen Notizen aus Munkebraten. Wie bin ich nur hierher gekommen? Bin ich über eine der Grenzlinien in Klaeres Bildern gestolpert? Warum muss ich hier sein? Ich will zurück. Wo ist die Grenzlinie, die ich überschreiten muss um zurück nach Munkebraten zu kommen?

Zustände der äußeren Welt sind durch Raum und Zeit getrennt. In Klaeres Bildern gelten die Grenzen von Raum und Zeit nicht. Ich tauche mit der Vielschichtigkeit meines Blickes in Welten neben Welten: Orange Städte, Blumenwälder, gelbe Tiefen, blau-lila Weiten. Ich sehe das was uns alle verbindet Farbe und Licht. 

         

[1] Dieses etwas adaptierte Gleichnis ist aus „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“ von Tschuang Tse, dem größten bekannten Daoisten nach Lao Tse, welches ich in der Maisonne von 2009 hier auf Munkebraten las.

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